Ich funktioniere. Ich funktioniere meistens. Ich funktioniere, wenn es mir nicht so besonders gut geht. Wenn ich mal einen schlechtern Tag habe oder mies gelaunt bin. So, wie wir das alle tun. Die Nerven sind dann zumeist daheim ein wenig gespannt, aber wer kennt das nicht.
Ich funktioniere jedoch auch, wenn das Dunkel aufzieht. Wenn mir die Luft zum Atmen wegbleibt, wenn der Schlaf kein erholsamer mehr ist, wenn ich denn überhaupt schlafen kann. Wenn die Träume verrückt spielen, und ich von einem Alptraum in den nächsten schlittere. Nicht eine Nacht, sondern nahezu jede. Ich funktioniere, wenn die Leere Besitz von mir ergreift, wenn sich mein Sein vernebelt. Wenn die Geräusche zu laut sind, das Licht zu hell. Wenn es mühsam ist, einem Gespräch zu folgen, weil sich die Konzentration so sehr auf die basics des eigentlichen Seins konzentrieren muss, dass kaum noch Platz für Anderes bleibt. Ich funktioniere, wenn mir die Glieder schwer sind vor der Last des Alltags. Ich funktioniere, wenn meine Gedanken nicht stillstehen können und mich schier in den Wahnsinntreiben und nur noch das stille Zählen von Dingen ein wenig Rast in das Gedanken-Karussell bringt. Ich funktioniere, wenn ich innerlich längst zusammengekauert in der Ecke hocke und mich nach Beruhigung sehnend vor- und zurückwiege. Ich funktioniere einfach weiter und putze die Fassade. Wer mich nicht näher kennt, bemerkt das nicht mal. Und die, die mich kennen, bemerken es oft nur dann, wenn sie genau hinschauen.
Das Funktionieren ist so ein Ding mit zwei Seiten. Ich funktioniere immer lange. Viel zu lange. Denn in den meisten Fällen stürze ich danach tief, sicherlich tiefer, als ich gestürzt wäre, wenn ich denn früher innegehalten und mich gekümmert hätte. Oder mich versucht hätte zu kümmern. Oder in vielen Fällen Hilfe in Anspruch genommen hätte. Letzteres ist ein Punkt, den ich möglichst lange hinauszögern will. Immer. Denn es liegt mir gar nicht, überhaupt Hilfe zu benötigen, geschweige denn anzunehmen oder gar aktiv danach zu fragen. Ich möchte alles mit mir selber ausmachen, alles selber schaffen, niemandem zur Last fallen. Mich in schlimmen Zeiten niemandem zumuten. Und ich will mich gar nicht erst zeigen. Will nicht offenbaren, was denn unter dieser Fassade tatsächlich ist. Die Fassade ist nicht eine gänzlich falsche, die Fassade bin auch ich, sie gehört auch zu mir und meinen eigentlichen Empfindungen Aber in vielen Momenten ist sie eben nicht authentisch, weil es im Innen gerade ganz anders aussieht.
Da sind aber auch Zeiten, in denen mich das Funktionieren und die Fassade hochhalten. Mir Struktur geben, mir einen geregelten, bekannten Alltag ermöglichen, der mir Sicherheit gibt, an dem ich mich entlanghangeln kann, wenn im Innen das Chaos tobt. Oder die Leere. Oder das Dunkel. Wenn mir der Nebel die Sicht nimmt, kenne ich mich in meinem Alltag so gut aus, dass ich ihn dennoch bewältigen kann. Und hier kommt die Crux - wo hört das "gute" Funktionieren auf, das Sicherheit gibt, und wo fängt das "schlechte" Funktionieren an, das mich weit über alle Grenzen treibt? Nach all den Jahren, in denen mich verschiedene, psychiatrisch titulierbare Seelenzustände eng begleiten, fällt es mir immer noch schwer, das herauszufinden. Es ist immer noch schwer, mich selber wahrzunehmen und zu bewerten in einer Depression, in dissoziativen Zuständen sowie Belastungszuständen, um eben dann die Formen des eigenen Funktionierens voneinander abzugrenzen zu können.
Darüber hinaus drängt die eigene Situation mich oft dazu, auf jeden Fall zu funktioneren - ganz ab von meinem Berufsleben. Denn mein eigentlicher "Hauptjob" ist entfernt von einer Arbeitsunfähigkeit:
Ich liebe es, Familie zu haben. Und mir ist nie etwas Schöneres passiert, als Mutter sein zu dürfen. Aber ich habe auch noch nie etwas Schwereres getragen. Auch in schlimmen Phasen muss es zu Hause weitergehen, muss es einen Alltag für die Kinder geben, muss ich als Mutter "da" sein, auch wenn ich gar nicht mehr kann. Das ist zumindest mein Anspruch an mich, und der ist ein Stück weit auch okay so. Aber irgendwann kommt auch hier wieder der Punkt, an dem ich vor der Frage stehe, ob das Funktionieren noch ein "gutes" und "tragbares" für mich ist, oder ob ich mit dem mir selber auferlegten Funktionieren-müssen alles nur noch verschlimmere. Dummerweise kam diese Frage bisher selten wirklich in solchen Situationen auf. Ich kann sie tatsächlich zumeist erst rückblickend reflektiert betrachten. Wobei es dann im Regelfall bereits zu spät ist.
Das Funktionieren kann ein Segen sein, der mir den Kopf über Wasser hält. Und ein Fluch, weil es mich , den Kopf gut über wasser halten könnend, weit ins offene Meer treiben kann, bevor dann heimtückisch von unten der Strudel kommt, der mich doch in die Tiefe zieht.
Immerhin weiss ich darum. Ich weiss sogar gut darum. Aber Wissen heisst nicht, dass ich in der Lage bin, dieses auch an mir selber anzuwenden. Es wird besser, von Mal zu Mal. Aber es erfordert ein ewiges Auf-der-Hut-sein, was wiederum immer auch ein Stück weit Energie kostet.
Und im Regelfall läuft all das unbemerkt ab von aussen - und das ist wohl einer der Gründe, weshalb so wenige Menschen auch nur annähernd einen Blick dafür haben, was es bedeutet, depressiv zu sein, psychisch krank zu sein. Denn so vieles passiert einfach im Verborgenen - unsichtbar für die Augen Anderer.