Juni! Es ist bereits Juni... Viel zu lange Stille hier. Jetzt aber:
Frau
Brüllen fragt wie jeden 5. eines Monats seit einigen Jahren "Was
Machst Du Eigentlich Den Ganzen Tag?". Entstanden ist diese Idee
von ihr nach einer ganzen Woche Tagebuchbloggen im Jahr 2013. Ich war damals
bereits dabei und mache inzwischen wieder gerne mit.
Mein Tag beginnt mit einem Gewitter, ziemlich genau um Mitternacht. Ich bin mit Musik am Vorabend auf dem Balkon hängengeblieben, lauschte lange dem Wind, der durch den Baum fegte, der direkt hinter dem Garten steht. Es ist mild nach einem heißen, drückenden Tag. Das Gewitter zieht seit rund 2 Stunden mit Wetterleuchten immer näher. Als es um die Tageswende hier ist, regnet es eine kurze Zeit heftig, ich werde nass bis zu den Knien. Nun lausche ich dem Regen und Wind, die beide kurze Zeit später verstummen und zurück bleibt das Grundrauschen der rund 1 km entfernten Autobahn. Ich bleibe, höre weiter Klaviermusik, schreibe einzelne Dinge auf, die mir durch den Kopf gehen. Ein Moment des Schreibens, wie er seit Monaten fehlt: aus dem Bauch aufs Papier, oder diesmal auf den Handy Notizblock. Über Abschiede, Verantwortung, Wahrnehmungen. Wenn ich sie nächstens wieder lese, werde ich überrascht sein, was ich schrieb und wie treffend es meist ist. Innenwelten kann ich selten mit dem Mund ausdrücken, selten meinem Gegenüber sprechend beschreiben. Das Schreiben des Innens auf ein Medium, das Fließen der Worte ursprünglich aufs Papier, ohne den Umweg über meine Gedanken, vermag manchmal zu entführen in meine Innenwelten, wie nichts Anderes es kann.
Ich bleibe bis gegen drei Uhr draussen und trinke zum Ausklang einen wunderbaren Milchkaffee.
Am Morgen kommt das kleine Kind nach ihrem Wecker klingeln zu uns ins Bett. Manchmal ist das um 05.00 Uhr, meist ein wenig später. Eigentlich steht sie gern früh auf, weil sie noch so viel erledigen muss (nun ja, die Haare und das Outfit brauchen die Zeit) und sie es nicht mag, in Stress zu geraten. Heute aber weckt HerrNebeL sie immer wieder ab 05.40, ab 06.00 Uhr übernehme ich, aber so recht gelingt es nicht. Als sie dann doch ins Bad geht, kommt sie weinend und schmollend zurück, weil es dort viel zu kalt sei...
Mittendrin kommt das grosse Kind und macht sich parat. Um 07.00 Uhr sind nach einigen Sticheleien, Haarproblemen, Diskussionen über zu schmierende Brote versus Essensgeld und anderlei Dingen beide Kinder fertig, gehen nach unten und verlassen das Haus. HerrNebel folgt rund 10 Minuten später. Ich bleibe liegen, da ich derzeit krankgeschrieben bin. Zwei Stunden lang versuche ich die Lautstärke in meinen Ohren zu ignorieren, die Töne und das wellenartig auftretende Rauschen sowie den Kopf, der heute unaufhörlich innerlich Lieder singt. Ich schlafe schliesslich um 09:00 Uhr wieder ein, um dann eine halbe Stunde später davon aufzuwachen, dass der Pflegedienst zu meiner unter uns lebenden Mutter kommt. Dieser hilft ihr derzeit zumindest morgens beim Anziehen und dem Waschen, da sie seit einer Schulteroperation eine Manschette trägt, die das Bewegen des Oberarmes verhindern soll. Diese wird über der Kleidung getragen und sie kann sich nicht alleine aus- oder anziehen; theoretisch wäre das möglich, aber die kognitive Umetzung gelingt ihr nicht mehr. Sobald der Arm aktiv belastet und bewegt wird, kann es sein, dass das Nähen dreier Sehnen völlig umsonst war und so wird das An- und Ausziehen engmaschig und mit strukturellen Anweisungen begleitet. Abends mache das meistens ich, ebenso das Duschen und alles andere, was anfällt.
Ich stehe dann selber auf, sage bescheid, dass wir in einer halben Stunde zur Physiotherapie fahren müssen - weil auch die zeitliche Strukturierung, das Merken von Terminen, das Lesen der Uhr oftmals nicht richtig gelingen - und mache mich fertig. Später gehe ich runter zu meiner Mutter, wir gehen durch, ob sie alles dabei hat, was sie braucht und machen uns auf den Weg. Ich habe meine Augen fortan überall. Hat sie wirklich den Schlüssel, nicht mehr die Hausschuhe an, vielleicht Schminke an falschen Stellen? Sieht sie die Stufen oder andere Hindernisse? Hält sie sich mit der gesunden Hand am Geländer fest und dergleichen. Übergegangen in Fleisch und Blut seit längerer Zeit.
Bei der Physiotherapie, heute ist der dritte Termin, bitte ich den Therapeuten um ein kurzes vorheriges Gespräch. Ich wurde aus den Berichten meiner Mutter nach der letzten Sitzung nicht schlau und bat ihn zudem, sie nicht üben zu lassen, die Manschette selbständig an und abzulegen. Nach diesem letzten Termin behielt sie nämlich nur im Kopf, dass sie den operierten Arm bewegen solle, um zu üben - und das ohne Manschette, was darin endete, dass ich sie komplett ohne das Hilfsmittel umgezogen vorfand. Sie hatte einfach Teile seiner Anweisungen nicht verstanden, aus "sie söllten lernen, die Manschette selbständig an und abzulegen" sowie "sie müssen üben, aber keine aktiven Bewegungen" blieb bei ihr hängen, dass sie zu Hause die Manschette abnehmen und den Arm bewegen solle.
Komplexe Inhalte erfasst sie oft nicht mehr, erst recht nicht, wenn es schnell geht. Sie hat eine gute Fassade, sodass irgendwas dem Therapeuten zwar etwas wunderlich vorkam, aber er keinerlei Idee dazu hatte, dass hier eine Demenz vorliegt. Ich wiederum wollte nicht immer und überall dabei sein und dachte mir, dass sie wie im Krankenhaus passiv durchbewegt würde und dabei nichts schief gehen könne... nun ja, weit gefehlt. Ich erkläre die Situation und nehme an der Stunde teil, schaue mir die Übungen an, die sie machen darf. All zu oft sehe ich die Unsicherheit in ihren Augen, wenn der Therapeut etwas erklärt, was sie tun soll, all zu oft bewegt sich die falsche Hand, all zu oft reagiert sie mit ganz anderen Bewegungen. Jetzt schließt sich der Kreis, was sie mir vom Rudern erzählte und den Armhebungen, unter denen ich mir so gar nichts vorstellen konnte. Verstanden jedoch hat sie sie auch heute noch nicht. Wir stellen gemeinsam klar, dass sie nur in Begleitung üben dürfe und meine to do Liste wird erweitert darum, dass ich dies noch meiner Schwester zeigen muss. Oder der großen Tochter. Oder HerrnNebeL. Oder am besten allen.
Von dort aus fahren wir kurz heim und brechen ein halbes Stündchen später zum besten Fischmann auf, der am Stadtrand, ganz nah unseres Hauses liegt. Wir essen Sushi, und die Mutter freut sich, dass sie nun endlich einmal Sushi gegessen hat und dass es ihr so wunderbar schmeckt. Die Male, die wir vorher schon dort waren, sind verschwunden, zumindest die, an denen wir Sushi aßen. Tatsächlich gehen wir schon seit 20 Jahren dort hin, aber Sushi probierte sie dort erstmalig vor etwa 2 Jahren. Ich schreibe einen Einkaufszettel, die Mutter bittet zum wiederholten Male darum, noch zum Erdbeerfeld zu fahren. Als wir dort abbiegen, weiß sie es nicht mehr und freut sich, dass wir Erdbeeren kaufen. Es kommt aber zurück in ihre Erinnerung: "Ach, stimmt, das hab ich schon wieder vergessen". Ja, ich weiß.
Wir gehen anschliessend noch gemeinsam in den Getränkemarkt und Supermarkt, wo sie manchmal herumläuft wie Falschgeld. Die Reaktionen sind verändert, sie weiß nicht mehr schnell genug, was sie tun soll, wenn ihr jemand mit dem Einkaufswagen entgegenkommt, sie kann die Idee ´aus dem Weg gehen zu wollen´ nicht mehr so einfach umsetzen und alles sieht wunderlich ungelenk aus. Auch hier sind meine Augen und Gedanken oft überall, um eingreifen zu können. Danach geht es nach Hause, ich versuche vergeblich, sie dazu anzuhalten, nichts in die Hand zu nehmen beim Weg die Treppe hinauf, damit sie sich festhalten kann. Kaum drehe ich mich um, trägt sie doch das 2 Kilo Erdbeerkörbchen hinauf und hat gar keine Hand zum Festhalten übrig. Ich muss sie lassen - viel mehr kann ich nicht tun, ich kann ihr nicht alles abnehmen. Will ich auch gar nicht, im Gegenteil. Ich möchte, dass sie so viel als möglich selbständig macht. Oder ihr zumindest das Gefühl geben, dass es so ist. Die Situation ansich ist schon schwer genug, ich darf sie nicht einengen, sie nicht bevormunden. Ich muss versuchen, auf Augenhöhe zu bleiben - obwohl längst ich, wir vieles entscheiden, nahezu alles an administrativem Kram erledigen. Ihr Struktur geben, an die sie sich halten kann. Auch wenn sie oft unselbständig ist wie ein Kind, darf ich und will ich sie nicht bemuttern.
Ein Spagat.
Ich verräume die Einkäufe, wasche Wäsche, bringe die Küche halbwegs in Ordnung. Sie erzählt mir derweil, dass am Morgen jemand von der Krankenkasse angerufen habe. Etwas würde fehlen. Sie kann mir weder sagen was noch wofür, weiss aber zu berichten, dass die Dame erwähnte, dass es ja oft besser sei, miteinander zu reden, um die Dinge mal schnell zu klären. Nun, ob etwas geklärt ist, und wenn ja was, muss ich nun morgen in Erfahrung bringen, indem ich herausfinde, wer anrief ("die war nicht hier aus der Stadt, sondern von einer Zentrale") und dann hinterher telefoniere.
In unserer Wohnung beginne ich das Notwendigste zu erledigen. Die Mädchen kommen heim nach heute nur 8 Stunden. Dann sind sie immer früh hier, weil ein Einsatzbus der Nachbarschule bei ihrer Schule vorbei fährt und 150 Meter von uns entfernt anhält. Zu anderen Zeiten brauchen sie am Nachmittag fast 1 Stunde, heute nur eine halbe. Das große Kind hilft kurz mit, das kleine nach mehrmaliger Aufforderung auch. 5 Minuten später sitzen sie beide wieder an irgendwelchen Medien, eine schaut eine Serie, die andere daddelt am Handy. Es gibt hierzu zwar feste Regeln; diese sind derzeit aber zugegebenermaßen recht verweichlicht. Denn wie sie so sind: Reglen sind da, um erst Mal dagegen anzuschimpfen. Auch wenn die Regel schon immer so war. Im Moment aber fehlen mir oft die Nerven, das Gemecker anzuhören und ich sehe über das Regel brechen hinweg. Nicht gut, ganz klar. Schafft auch weitere, dann hausgemachte Probleme. Aber meine Ressourcen sind mehr als begrenzt und welches Kind würde ihn nicht ausnutzen diesen Zustand?! Andererseits ist ihnen auch vieles an der Situation hier bewußt und oftmals kommt das große Kind von sich aus und fragt, wo sie mir helfen kann. Und das kleine Kind ist oft unfassbar liebevoll dabei, mich aufzubauen. Irgendwann wird es auch da wieder geregelte Bahnen geben.
HerrNebeL kommt nach Hause, und es wird rund eine halbe Stunde ums Schwimmen diskutiert. Mittwochs gehen die drei am Abend nämlich gemeinsam schwimmen. Heute aber will die eine Tochter nur in dieses eine Bad und nicht das andere; sie diskutiert und argumentiert wild vor sich hin, allerdings ohne zu wüten und die Situation zu verlasssen, wenn es schwierig wird, wie sie es oft tut. Sie hatte aus diversen Gründen zwar keinen Erfolg, aber am Ende finden wir gemeinsam einen Kompromiss für die Zukunft und ich bin sehr, sehr stolz, wie sie das geschafft hat. Das große Kind wurde es irgendwann leid und zog es vor, für heute weiter ihre Serie zu schauen.
So grilltn wir spontan Restfleisch vom Wochenende, ich telefoniere lange mit der Schwester, um die nächsten Tage abzusprechen, sowie kurz den neuerlichen Stand der Dinge im Erbstreit. Inzwischen sind die für mich schwierigsten Dinge klar geregelt und über all die nun noch wunderlichen Dinge lache ich fast und kann nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Bald sind 2 Jahre um, und obwohl eigentlich seit November eine Einigung besteht, geht es nicht wirklich weiter. Definitiv augenrollbedürftig.
Nach dem Abendessen auf dem Balkon gehe ich runter zu meiner Mutter und mache die vom Therapeuten aufgetragenen "Hausaufgaben" mit ihr. Es hapert weiter an der Umsetzung und ich gebe verschiedene Unterstützung. Hier und da gibt es einen "Aha" Effekt - wer weiß, was morgen davon hängengeblieben ist. Vieles erinnert sie nämlich durchaus, es ist wie ein Glücksspiel. Manche Dinge sind eindrücklicher als andere, manche Dinge sind morgen noch ganz klar, aber übermorgen schon wieder im Nebel. Eigentlich ist das auch spannend, aber es bedarf eben dieses ständigen Mitdenkens, Beobachtens und Eingreifens, falls denn nötig. Hab Acht Stellung. Ich könnte den Dingen ihren Lauf lassen, richtig. Jedoch, solange die Schulter gar nicht belastbar ist, bin ich sehr auf der Hut. Denn wenn etwas nach der geglückten Operation schief geht, kann der Arm sehr schmerzbehaftet bleiben. Oder unbrauchbar. Oder es bedarf einer noch größeren OP und alle Mühe wäre umsonst gewesen oder begänne wohlmöglich von Neuem. Später werde ich wieder ein wenig weniger eng dran sein müssen. Hoffe ich. Da aber in den letzten Wochen vor der OP schon eine deutliche Verschlechterung einzog, beginnen wir langsam, weiter zu denken, was zu planen ist. Und wann. Und wie.
Wir kommen gut zurecht, wir beide, die Mutter und ich. Ich habe Geduld, ich weiß, worauf ich achten muss, ich habe Übung durch meinen Job. Ich weiß, wie ich ihr gut helfen kann, ohne dass es zuviel ist; ich weiß, wie sie selber auch viele Anteile selber erledigen kann. Ich habe raus, was ich machen muss, damit es ihr persönlich dabei gut geht. Wir diskutieren nicht, obwohl ich ihr durchaus nicht einfach Recht gebe, wenn etwas nicht so ganz oder gar nicht den Tatsachen entspricht. Ich lenke das Gespräch, und wir finden immer einen guten Ausgang. Ich tue viel und ich tue vieles gern. Oft haben wir auch großen Spaß dabei, bei der Grundpflege, beim Duschen. Ich tu ihr oft gut. Ich sei eine gute Tochter, sagte HerrNebel dieser Tage.
Stimmt. Aber ich bin derzeit wenig verfügbar für alles Andere. Die Kinder stecken zurück. HerrNebeL auch. Am meisten aber ich. Ich lebe für Andere, ich lebe für Aufgaben. Ich selber bin an vielen Limits, physisch und psychisch. Deswegen zog ich die Reißleine und bin erst mal raus aus dem Job noch für eine Weile. Obwohl er mir fehlt. Aber ich würde noch schneller noch mehr abbauen. Und die letzten Tage zeigen mehr und mehr, dass es ohne jemanden, der viel Zeit hier verfügbar ist, derzeit nicht gehen würde. Auch wenn da ein wenig Entlastung ist durch die Pflege, die das Waschen, Aus- und Ankleiden am Morgen übernimmt, gibt es darüber hinaus ungeheuren Hilfsbedarf.
Die Mutter hat am Nachmittag Erdbeeren für alle parat gemacht, und ich nehme welche mit nach oben zur Freude aller. Inzwischen ist es halb neun, das große Kind wäscht sich die Haare und das kleine sucht nach Kleidung für morgen. Es ist schwierig, obwohl sie diejenige ist, die am meisten Anziehsachen hat. Einiges der großen Schwester, einiges von der Freundin der Schwester und einiges, was sie selber sich wünschte oder kaufte. Sie sucht erst Tops und Shirts, die alle irgendwie nicht richtig sind. Zwischenzeitlich einigen wir uns, dass ich ihr schnell eins nähen könne nach Schnitt xyz. Dies scheitert am fehlenden, ihr gefallenden Stoff. Letzlich möchte sie noch im Kinderzimmer aussuchen und ich warte in meinem Bett liegend darauf, dass sie so weit ist. Das endet darin, dass jede in ihrem Bett auf die Andere wartet und das Licht erst um 22.00 Uhr aus ist.... Ich bleibe bei ihr, bis sie schläft, weil sie es immer noch liebt und ich es gern tue. So kommt es, dass ich auch noch bei der 9 jährigen irgendwann, jedes Geräusch vermeidend, aus dem Zimmer schleiche. Heute renne ich allerdings halb gegen den Ventilator, aber glücklicherweise schläft sie so fest, dass sie sich nicht regt.
Dann endlich mache ich meinen Kaffee, den ich eigentlich gefühlte Stunden vorher gemeinsam mit @FrauMiest virtuell trinken wollte und blogge. Den Gang in die Badewanne hab ich verschoben, weil bereits der 6. Juni geworden ist. Bevor ich aber ins Bett gehe, in das HerrNebeL längst gegangen ist, setze ich mich noch mit einem Glas Wein nach draussen, weil seit einigen Minuten der Wind wieder so arg durch den Baum hinterm Garten weht, dass ich noch ein Weilchen dem Tosen und Rascheln lauschen werde.
Mehr Tagebuchbloggerei findet sich wie immer
hier.