Montag, 5. November 2018

Gut siehst du aus

... oder wie mich drölfzig sicherlich lieb und ehrlich gemeinte Kommentare aus der Bahn werfen.

Der Mann der Besten wurde heute 60 und die Beste organisierte einen kleinen Überraschungs-Umtrunk mit schätzungsweise 30 Gästen. Die Beste und ihren Mann kenne ich, seit ich 16 bin sehr eng, nehme seit Jahren an Familienfeiern teil, ihre Kinder sind meine Patenkinder im Herzen, wenn auch schon beide weit über 20 Jahre alt sind. Demnach kenne ich auch viele der Gäste. Meist aber aber sieht man sich selten; an Feierlichkeiten, an Sport Events, die durchaus seltener geworden sind - zumindest in unserer Altersklasse. 
Am späten Nachmittag machten wir uns nach einem wieder mal aufreibenden Vormittag auf dem Weg dorthin - es gab daheim zwar wenig wirklich zu tun, aber da sind stets Dinge, die mich umtriebig machen, die es zu erledigen gilt und die selten ohne Übellaunigkeit enden.
Ich zog ein neueres Kleid an, freute mich, dass es noch passt, weil hier seit Monaten die Kilos schwinden, somit  manches einfach nicht mehr passt oder aussieht wie ein Kartoffelsack, dem der Gürtel fehlt.
Fünf Mal hörte ich den Kommentar: "gut siehst du aus". Schön, ja wie schön eigentlich.
Aber es haut mich um, macht mich traurig und nachdenklich. Ich mag gut, schön aussehen, weil mein Körper eine ansehnliche Silhouette  hat. Konturen mit Kanten, wo es zuvor jahrelang nur Kurven gab. Nicht, weil ich es selbst so gewählt hätte, sondern weil Medikamente und Hormone meinem Körper zusetzten. Ich habe zu viel gewogen, hatte Bauch, war übergewichtig, wenngleich auch viele sagten: "du bist doch nicht dick". Nein und doch. Ich war viel. Nicht immer. Aber zumindest jahrelang.
Heute bin ich deutlich deutlich weniger, weil ich hineinrutschte in eine mir all zu bekannte Sucht. 
Seit ich in der Pubertät war, stand ich auf Kriegsfuß mit meinem Körper, kanalisierte mein verwundetes Seelenleben in die Körperlichkeit. Bis ich schwanger wurde, war ich gefangen in bulimischer Anorexie, mal mehr, mal weniger. Inklusive monatelangem Klinikaufenthalt. Niemals war ich mir wenig genug, niemals hatte ich ein ausgewogenes, realistisches, gar gesundes Verhältnis zu meinem Körper. Als ich schwanger wurde(wovon ich niemals glaubte, dass mein Körper das nach Jahren der Sucht je schaffen würde), konnte ich all das hinten an stellen. Es galt, für mein Kind zu sorgen und ich konnte ein "normales", ein weitestgehend gesundes Essverhalten zulassen. Es war nach der Geburt nie so richtig perfekt. Mein Selbstbild immerzu zu dick, ganz gleich, ob es 65 oder 80 Kilo waren. Aber ich konnte damit leben, konnte es hinnehmen, ich akzeptierte. Es folgten immer wieder Zeiten mit Gewichtszunahmen aufgrund notwendiger Psychopharmaka. Manche vertrug ich besser, andere eben nicht. Seit einiger Zeit nehme ich nur Notfallmedikationen. Auch hier mal mehr und mal weniger, aber Auswirkungen auf meine Körpermasse hat diese keine.
Seit rund einem Jahr esse ich wenig. Oft sehr wenig. Es schlich sich ein, ich verlor aufgrund viel zu vieler äußeer Anforderungen und Umstände den Appettit - wie so mancher es eben tut. Ist das Leben stressig, traurig, schwierig, anstrengend, reagiert jeder anders. Essen macht mir dann keine Freude mehr. Obwohl ich ein Genuß-Mensch bin. Wie sehr ich gutes Essen doch eigentlich mag! Aber seit dem Tod des Stief-Vaters war es mir gleichgültig, seit Beginn der Erbstreitigkeiten erst recht. Zudem nahmen die Belastungen daheim permanent zu. Wie es dann so ist: das Essen fällt irgendwie hinten rüber. Es dauerte nicht lange und es wandelte sich: es war eben nicht mehr nur ein Appetenzverlust, sondern wurde zur Essensverweigerung. Ich aß nur, wenn ich gesehen wurde, aß nur, um nicht aufzufallen. Jedes bisschen Nahrung in mir war zuviel, fühlte sich an wie ein Stein in mir. Ganz manchmal ertrug ich eine Mahlzeit, die objektiv betrachtet zumeist nicht mal eine wahre Mahlzeit war, nicht in mir und ich erbrach sie. Nicht oft, aber es kam eben vor. Die Waage wurde mir Freund und Feind, der Tag definiert durch einen Gewichtsverlust oder eine Zunahme. Ich verlor weit mehr als ein Viertel meines Gewichtes. Ich bin heute (wieder) schlank. 2-3 Kleidergrößen Unterschied zu letzten Herbst. Ich halte mich fest en meinen Knochen, die Hüftknochen stehen heraus, man sieht die Schlüsselbeine. Oftmals habe ich eben diese in der Hand, streiche darüber, spüre ihre so wunderbare Härte. 
Da sind Menschen, die sich sorgen. Menschen, die meine Geschichte kennen. Ich belüge die, die mir nahe stehen in der Regel nicht mehr. Zur Not lasse ich sie gar kontrollieren, wie mein Gewicht ist, wenn sie mir nicht glauben mögen, was die Zahl auf der Waage sagt. Ich gehe offensiv zum Hausarzt und kläre Blutwerte, lasse Mangelernährungszustände checken. Loslassen kann ich aber nicht. Ich bin im unteren Mittel des Normalgewichtes, aber ich bin mir zu viel. Ich schwanke zwischen dem objektiven Wissen, der objektiven Betrachtung und kann dennoch mein Empfinden von Körperschema nicht positiv beeinflussen. Ich bin mir zuviel. Und ich weiß, dass mein Vorsatz, mir nicht mehr zuviel zu sein, wenn ich Gewicht xy erreicht habe, keinen Bestand haben wird. Auch dann werde ich mir zuviel sein. Ich bin gefangen in der Sucht, auch und obwohl ich so vieles weiß, so vieles durchschaue. Ich halte fest an ihr und ich halte mich an ihr fest. Ich sehe momentan keine Auswege, kann momentan keine Hilfen annehmen. Wobei ich reden kann. Thematisieren kann. Wobei ich nicht verleugne. Zumindest einem ausgewählten Personenkreis gegenüber. Das ist weit mehr als früher. Ich erkenne, habe früh erkannt. Dagegen wirken konnte ich dennoch nicht.  
Sie ist nur eines von vielen Übeln, diese Sucht. Oder ein Resultet viel zu vieler Anforderungen, viel zu vieler Entgleisungen im Außen, die ich nicht beeinflussen kann, sondern tragen und obendrein managen muss. Aber sie zehrt selbstredend. Ich gewinne - anscheinend zumindest - Kraft durch Kontrolle, Kraft durch Erfolg im Gewichtsverlust. De facto aber verliere ich an körperlicher Substanz. Das Leben ist anstrengend, alles was mich umgibt fordert. Sehr. Oft permanent. Ich setze durch die Sucht noch einen oben drauf.
Da sind Massen an ambivalenten Gefühlen. Gefühle, die die Sucht mir eintrichtert, Gefühle, die die objektive Betrachtungseise mit sich bringt. Und viele Gefühle, die die Reaktionen von außen in mir auslösen.
Allem voran: das Ding mit dem Essen oder Nicht Essen ist meins. Mir wäre es lieb, wenn das einfach keiner sieht oder mitbekommt. Weder was und wieviel ich esse, noch wie mein Körper sich verändert. Auch wenn ich (noch ein bisschen) fern bin vom Untergewicht: knapp 30 Kilo Gewichtsverlust seit letzten Sommer lassen sich nicht verbergen. Nicht die veränderten Körperformen, nicht das spitze Gesicht, nicht die eingefallenen Wangen.  Auch wenn ich alles gern verbergen würde. Ich möchte gar nicht, dass jemand auf die Idee kommt, Rückschlüsse zu ziehen.
 Andererseits aber bin ich schockiert.
"Gut siehst du aus". Wer sagt das - und wann? Ich kann mich kaum erinnern, häufig Kommentare zu meinem Aussehen bekommen zu haben wenn ich mit 80 Kilo ein Kleid trug. Ein schönes Kleid.  Ich bekomme so oft Kommentare momentan, wie gut und toll ich aussähe. Welche Größe ich jetzt wohl trüge. Und und und.
Warum? Diese Gesellschaft scheint sich nur zu definieren über Super Maße, oftmals sogar wohl die Frau in dieser Gesellschaft scheint all zu oft darüber definiert zu sein. Ist denn die Frau über der "Norm" nicht schön? Bin ich denn wertvoller, wenn ich Kleidung in 36 oder 38 tragen kann, als wenn ich zur 44 greifen muß? Es ist so grenzüberschreitend, eben dies gefragt zu werden. Was geht denn beispielsweise die Schwägerin der Besten meine Kleidergröße an? Natürlich kann und muss ich da meine Grenzen stecken. Es schockiert mich aber so unglaublich, wie sehr Anerkennung verbunden zu sein scheint mit dem Körper; zudem, wie sehr ein Körper schlanken Erscheinungsbildes suggeriert, dass eben alles gut ist.
Nichts ist gut und eigentlich liegt mir ja auch fen, das in aller Öffentlichkeit zu diskutieren.Ich weiß doch, dass die Menschen, die mir ferner sind und die so etwas sagen, ein Kompliment intendieren. Natürlich fühlt es sich gut an, gespiegelt zu bekommen, "gut" aus zu sehen. Ich kann das durchaus heute auch so hinnehmen und glauben, was ich füher niemals tat. Deckungsgleich mit meiner eigenen Empfindung ist das trotzdem nicht. Ich bin mir  zu viel. Deutlich zu viel. Darum gehts es mir gerade aber nicht, sondern darum, dass ich so fassunglos bin, wie sehr Klischees verankert sind, wie sehr das Außen Ton angebend ist für das  Innen eines Menschen.  Wie viel wertvoller "Schlank sein" zu sein scheint, als es eben nicht zu sein.
Mein Innen, meine Geschichte binde ich nicht jedem auf die Nase, keineswegs. Trotz gewonnener Offenheit in all den Jahren mit Erkrankung bin ich weiterhin gern im Team "Klappe halten". Ich kann allerdings ehrliche Nachfragen ab,  verstecke meine Geschichte ansich nicht. Jeder darf immer fragen, und beonders Menschen, die mir nahe stehene, bekommen ehrliche Antworten und ich scheue auch nicht das Gespräch. Aber ich falle auch nirgends mit der Tür ins Haus.
Es ist komplex, es wundert mich einfach sehr, wie es eben so ist. Sicherlich triggert das auch etwas in mir an, wenn eben vielleicht zufällig gehäuft ernst gemeinte Komplimente kommen, die ohne Hintergedanken sind. Aber weiter darüber nachgedacht, bestürzt mich eben das Bild, was in der Gesellschaft vorzuherrschen scheint. Möglicherweise bin ich empfindlich momentan, weil das Leben gerade in seiner Gänze ier kein Einfaches ist und eine bestehende Auswegslosigkeit uns alle ein klein wenig oder ein klein wenig mehr lähmt.
Vielleicht versuche ich einfach das "du siehst gut aus" in mich hinein zu nehmen und es für gut zu nehmen, als die Abwesenheit der Kommentare bei 25 Kilos plus. Manchmal ist es wohl besser, sich das tollste Stück Kuchen abzuschneiden und den Anderen die matschigen Reste zu überlassen. Ich verscuh das mal - sonst wird der Start in die neue Woche wohl eher bescheiden...

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